William Beebe – eine schillernde Legende Teil 1 Von Michael Kranzler Zu seiner Zeit war der Name Beebe in aller Munde. Heute verblasst sein Ruhm, und meist werden nur spröde Fakten seines Tieftauch-Rekordes überliefert. Methode und Technik seiner Tauchabstiege beschrieb er in seinen Büchern und Aufsätzen. Weniger bekannt sind bei uns hingegen sein Leben, die äußeren Bedingungen, unter denen er forschte, und die menschlichen Aspekte seiner Arbeit. Doch die sind untrennbar mit Beebes Tätigkeiten verbunden und ebenso bewegt wie bewegend. Denn auch der Mensch William Beebe war außergewöhnlich; er leistete Herausragendes auf völlig unterschiedlichen Gebieten. Aber mit seinen Exkursionen unter die Meeresoberfläche bis hinab in die Tiefsee prägte er Entwicklung und Geschichte des Tauchens ganz entscheidend. Mit ihnen hat Beebe vor nahezu 100 Jahren sowohl der Wissenschaft als auch einer breiten Öffentlichkeit eine völlig neue Welt erschlossen. Ein geborener „Naturalist“ Der Vergleich drängt sich auf. Als Neil Armstrong am 21.7.1969 aus der Mondfähre klettert und als erster Mensch die Oberfläche des Mondes betritt, meldet er zur Erde: „Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit.“1 Die gleichen Worte könnte William Beebe sprechen, als er am 9. April 1925 in der Darwin-Bay vor der Insel Tower die letzte Sprosse der Leiter hinabsteigt, um mit dem Kupferhelm auf seinen Schultern zum ersten Mal unter die Oberfläche des Pazifiks zu tauchen. Er drückt es so aus: „Als ich einen Taucherhelm überstülpte und zum ersten Mal die eingetauchte Leiter hinabkletterte, wusste ich, dass ich den möglichen Freuden meines irdischen Daseins tausende und abertausende Meilen hinzugefügt hatte. […]. Denn die eigene Erforschung des Ozeans ist wahrhaft überirdisch; wir dringen in eine neue Welt vor.“2 Dieses Erlebnis schlägt den Entdecker völlig in seinen Bann und lenkt dessen wissenschaftliches Interesse für lange Zeit in neue Bahnen. Seine daraus folgende Forschungsarbeit verleiht der Ozeanographie, Ichthyologie und nicht zuletzt dem Tauchen starke Impulse, die weit tragen und nachhaltig wirken werden. Beebe ist sich durchaus bewusst, dass er nicht der erste ist, der sich mit einem Helm unter Wasser wagt. Aber keiner vor ihm hat mit seinen Berichten aus dieser neuen Welt so viele Menschen erreicht, und nur wenige verfolgen so hartnäckig und erfolgreich wie er das Ziel, die Meerestiefen für die Wissenschaft zu erobern. Charles William Beebe, von Freunden kurz Will genannt, wird am 29. Juli 1877 in Brooklyn als einziger Sohn eines Papierhändlers geboren.3 Nach dem baldigen Umzug seiner Eltern wächst er auf in East Orange, New Jersey. Hier, in der ländlichen Umgebung dieser Kleinstadt, kann der Junge seine Begeisterung für die Natur und deren Erforschung voll ausleben. Ständig durchstreift er die Gegend, sammelt, beobachtet. Vögel liebt er besonders, doch trägt er ebenso Schmetterlinge, Motten und Fossilien zusammen. Darüber hinaus liest er bevorzugt naturgeschichtliche Werke. Als Sechzehnjähriger schreibt er zum Jahresschluss in sein Tagebuch: „Naturforscher zu sein, ist besser als ein König zu sein.“4 Doch die Metropole New York mit all ihren Möglichkeiten liegt nicht weit. Häufig besucht er das Naturhistorische Museum dort und freundet sich schließlich mit dessen Präsidenten Fairfield Osborn an.5 Voller Begeisterung stürzt er sich in ein naturwissenschaftliches Studium an der Columbia-Universität. Aber völlig überraschend beendet er seine akademische Ausbildung 1899 ohne Abschluss. Er arbeitet – dem unwiderstehlichen Angebot Osborns und seiner eigenen Neigung folgend – zunächst als Assistent, ab 1902 als Kurator der ornithologischen Abteilung des Bronx-Tiergartens der New York Zoological Society (Zoologische Gesellschaft New York, künftig NYZS).6 Für den jungen Beebe, der zwar große Erfahrung mit heimischen Vögeln in freier Natur besitzt, aber nicht viel über Methodik der Ornithologie und gar nichts über Haltung und Aufzucht von Wildvögeln weiß, ist das keine leichte Aufgabe. Doch bald erkennt er, dass für die erfolgreiche Haltung und Präsentation seiner gefiederten Freunde weit größere Volieren unerlässlich sind und regt erfolgreich den Bau eines neuen großen Vogelhauses an.7 Einmal rügt der Direktor den jungen Assistenten schriftlich, er möge es unterlassen, während der Dienstzeit Tiere im Zoo zu fotografieren. Außerdem solle er morgens pünktlich zum Dienst erscheinen und abends nicht vor fünf gehen, sonst müsse das Gehalt gekürzt werden.8 Doch als 1900 ein Bär aus seinem Gehege ausbricht, ergreifen auch die Angestellten des Zoos die Flucht. Nur Will und der Direktor wagen sich an das Tier, das die Hand des Direktors zerbeißt, bevor es überwältigt werden kann.9 Im Sommer 1901 sammelt Will in Neu-Schottland aus den Gezeitentümpeln Seeanemonen und Seeigel. Seine erste Veröffentlichung gelingt Will schon als Achtzehnjährigem: In einer Art Leserbrief beschreibt er in einer Jugendzeitschrift eine Vogelart.10 Seit diesen frühen Jahren bemüht sich Beebe stets, Artikel und Aufsätze nicht nur in den angesehensten zoologischen Fachblättern unterzubringen, sondern auch in Zeitschriften und Zeitungen immer wieder allgemein verständliche und fesselnde Beiträge zu veröffentlichen.11 Seine Texte werden oft als Literatur eingestuft. Er sei „…eine der eigentümlichsten Gestalten des Jahrhunderts. Eine Prise Darwin, ein wenig Jules Verne, etwas Edgar Allan Poe, je ein Stück Linné, Mark Twain, Sven Hedin und Robinson Crusoe – diese Mischung könnte man vielleicht William Beebe heißen.“12 Dabei ist Will nie wirklich zufrieden mit seinen Texten: Das Bewusstsein, die Fakten der Natur entdeckt zu haben, sei die reine Freude. Darüber zu schreiben aber sei eigentlich anmaßend. Denn so aufregend und unvorstellbar die Wirklichkeit sei, so nichtssagend und fade seien sämtliche Kombinationen der 26 Buchstaben unseres Alphabets.13 Im Freundeskreis lernt Will die drei Jahre jüngere Mary Blair Rice kennen und lieben. Sie heiraten auf der Farm ihrer Eltern in Virginia am 6.8.1902 – bei Sonnenaufgang, wie die New York Times auf der Titelseite betont. Die beiden reisen nach Mexiko und nach British Guayana, wo er später Kalacoon, die erste Forschungsstation der NYZS außerhalb der USA gründen wird. Sie touren nach Trinidad und Venezuela, um Tiere zu beobachten und für den Zoo zu ergattern. Sie durchqueren im Sattel wüste Landstriche, campieren in der Wildnis, hausen auf einem kleinen Segelboot, paddeln mit Kanus durch Mangrovenwälder, überstehen einen Vulkanausbruch und Erdbeben. Ihre Erlebnisse schildern sie gemeinsam in Büchern.14 Blair hilft ihm auch dabei, sein Buch über die Vögel zu vollenden. Ein Satz daraus zeigt, wie sehr das Artensterben Will bedrückt, schon vor mehr als hundert Jahren: „Schönheit und Geist eines Kunstwerks mögen wiedererdacht werden, auch wenn sein erstes Urbild zerstört ist; eine entschwundene Harmonie kann den Komponisten erneut inspirieren. Wenn aber das letzte Individuum einer Art von Lebewesen nicht mehr atmet, müssen erst ein andrer Himmel und eine andere Erde entstehen, bevor eine solche Art wieder leben kann.“15 Mit der Unterstützung eines Sponsors brechen Will und Blair nach langen Vorbereitungen Ende 1909 auf in den Fernen Osten. Aus den ursprünglich geplanten vier Monaten werden anderthalb Jahre. Sie besuchen 22 Länder, immer auf der Suche nach Fasanen, die sie intensiv studieren. Beebes anschließendes vierbändiges Werk über diese Vögel reiht ihn ein unter die führenden Ornithologen seiner Zeit.16 Aber so kameradschaftlich verbunden Will und Blair einst waren, und wie eng sie früher auch zusammengearbeitet haben, jetzt hat sich das Paar auseinander gelebt, und 1912 lässt sich Blair von ihm scheiden. Die Trennung, von der Presse genüsslich ausgebreitet, macht Will schwer zu schaffen. Noch härter trifft ihn, dass seine Ex bereits einen Tag nach der Scheidung einen gemeinsamen Freund heiratet. Blair Niles, wie sie sich von jetzt an nennt, schreibt weiter erfolgreich Bücher und unternimmt Reisen nach Mittel- und Südamerika.17 1917 tritt Will trotz seines fortgeschrittenen Alters freiwillig einer französischen Fliegerstaffel bei, wobei auch später unklar bleibt, inwieweit er in Kampfhandlungen eingebunden ist. Nachdem er innerhalb der NYZS das neue Department of Tropical Research gründet (Abteilung für Tropenforschung, künftig: DTR) und zu deren Direktor ernannt wird, engagiert er John Tee-Van als Assistenten, der ihm als begabter Zeichner aufgefallen ist. John, geboren 1897 in Brooklyn, beginnt als Tierpfleger in der Vogel-Abteilung, bleibt dann 26 Jahre in Wills Stab, wird Direktor des Bronx-Zoos und später auch des New York Aquariums. Nach über 50 Jahren in der NYZS geht er in Rente und stirbt 1967. Fische, Mollusken, Krustentiere und Insekten werden nach Tee-Van benannt, der, wie Matsen schreibt, „gegenüber seinem Direktor so loyal war wie Sancho Panza zu Don Quichote“.18 Dieser Vergleich ist nicht völlig abwegig. Denn der hoch aufgeschossene, hagere Beebe ähnelt äußerlich durchaus dem „Ritter von der traurigen Gestalt“ und liebt wie dieser die Literatur.19 Keinesfalls aber ist er ein versponnener Träumer. Tee-Vans Figur hingegen gleicht der des Sancho überhaupt nicht. Aber beide halten über lange Zeit unverdrossen zu ihrem „Herrn“. Der fiktive Knappe, weil er auf reiche Belohnung hofft, Tee-Van, weil er nach wissenschaftlichen Erkenntnissen strebt. Und das ist es, was Will von seinen Assistenten erwartet: absolute Loyalität und schier unerschöpflichen Arbeitseifer. Mit welcher Leidenschaft Will seine Forschungen betreibt, zeigt ein Vorfall, den Barton berichtet.20 Als einmal Fischer eine bislang unbekannte Muräne an Land bringen, geraten Will und der Kurator des Museums in einen heftigen Streit über das Tier. Es geht das Gerücht: Als endlich der Pulverdampf verraucht ist, hält einer den vorderen Teil der Muräne, der andere den hinteren in Händen. Letztendlich triumphiert aber doch Will, denn er beschreibt die neue Art als Erster. Beebe befasst sich zunehmend auch mit der Erforschung der warmen Gewässer und ihrer Bewohner. Auf der Fahrt mit der >Noma< zu den Galapagos Inseln 1923 fischt er wiederholt mit Netzen, auch in größeren Tiefen. Je mehr Lebewesen er aus dem Meer holt, desto stärker wächst in ihm der Drang, näher zu erkunden, welche Wunder unter der Oberfläche verborgen sind.21 Sein Buch über Galapagos hält sich über Monate in der Top-Ten-Liste der New York Times. Will aber leidet noch immer unter der Trennung von Blair. Auch der Tod seiner Mutter setzt ihm zu. Fasziniert vom Meer So ist er froh, im Februar 1925 mit der >Arcturus< den Brooklynhafen verlassen zu können. In der Sargassosee findet das Team nur wenig Tang. Trotz starken Seegangs taucht Will vom Boot aus so tief er kann. „Ich tauchte und betrat damit eine tiefblaue Welt, an deren Decke bernsteinfarbiges Sargassum-Kraut schwamm. […] Ich tauchte ein zweites Mal und sank so tief, wie es mein aufgesparter Atem erlaubte. Bevor ich umkehrte und wieder nach oben stieß, warf ich einen langen Blick nach unten und versuchte mir diese unvorstellbare Welt des Lebens da unten vorzustellen, unten in der Tiefe, wo es immer schwärzer wird und der Druck ständig zunimmt.“22 Diese verzehrende Sehnsucht wird ihn lange vorantreiben. Im Pazifik treffen sie auf zwei Strömungen. Eine davon hält Will zunächst für den Humboldtstrom, doch sie ist zu warm dafür. Vermutlich sind sie dort dem Phänomen begegnet, das heute als El Niño bekannt ist. Bei der Insel Tower auf den Galapagos unternimmt Beebe dann jenen denkwürdigen ersten Abstieg mit dem Taucherhelm. Nur ungern steigt er wieder aus den Fluten. Mit einem gut ausgestatteten Labor, seinen hoch motivierten Mitarbeitern und den Mitteln seiner Sponsoren hinter sich, ist er fest entschlossen, dem Meer so viele Geheimnisse wie nur irgend möglich zu entreißen. Anfang Mai dampft die >Arcturus< zurück nach Panama, um die Vorräte aufzufüllen. Dort erfährt die Crew verblüfft, dass die Zeitungen bereits über das spurlose Verschwinden des Schiffes spekulieren, weil seit über zehn Tagen kein Funkspruch der Expedition empfangen worden ist. Bevor sie zu den Galapagos zurückkehrt, läuft die >Arcturus< die Kokosinsel an. Hier tauchen Beebe, Tee-Van und Ruth Rose, seine hübsche Assistentin, abwechselnd mit dem Helm. Für Pressefotos hatte sie vor der Abreise eine neue Modeschöpfung präsentiert: in Halbschuhen und Mantel, den Taucherhelm aufgesetzt.23 Will regt an, jeder aus dem Stab solle wenigstens einmal das „Königreich des Helms“ erleben, alle sollten sich selbst in Wasserwesen verwandeln. Darüber hinaus bereitet es Beebe größte Freude, gedanklich aus seinem Körper herauszuschlüpfen und sich in einen Fasan, ein Faultier oder einen Baum zu verwandeln, oder eben in einen Fisch.24 Er will den beobachteten Tieren also nicht bloß in ihrem Lebensraum nahe kommen, sondern quasi auch „geistig“, will sich „einfühlen“ in die Kreatur, sie verstehen. Diese scharfe Beobachtungsgabe und seine Erzählkunst machen seine Berichte so lesenswert, selbst bei nicht gerade abenteuerlichen Themen. Aber die gibt es ohnehin zur Genüge. In einer stürmischen Nacht geht eine Barkasse mitsamt einem der beiden Taucherhelme verloren. Südlich von Kokos fährt die >Arcturus< zehn Tage lang mit ausgeworfenen Netzen im Kreis. Auf dieser „Station 74“ holt das Team aus Tiefen bis zu 1.600 m insgesamt 3.776 Fische von 136 Arten, darunter viele neue Arten.25 Wieder auf Galapagos, wird erneut gefischt und getaucht unter Seelöwen, Pinguinen, Rochen und großen Haien. Unmittelbar vor der Rückkehr in den Heimathafen untersucht Will noch die tiefe Schlucht, die der Hudson River in den Tiefseeboden vor New York gespült hat, und findet auch dort reiches Leben. Der bedeutende Erfolg des Buches über das Arcturus-Abenteuer verstärkt das öffentliche Interesse für den Schutz der Galapagosinseln. 1927 unternimmt das DTR die zehnte Expedition, diesmal zu den unberührten Riffen Haitis. Beebe interessieren besonders die vielfältigen Wechselbeziehungen der Riffbewohner untereinander. Um seine Beobachtungen während der zahlreichen Tauchgänge nicht mehr mühsam auf Zinktafeln schreiben zu müssen, lässt Will in den Helm ein Telefon einbauen. So kann er seine Worte einer Assistentin an Bord der >Lieutenant< diktieren. Beebes treue Mitarbeiterin Ruth Rose, die Will seit der Galapagosfahrt „sehr ans Herz gewachsen“26 war, hat sich auf der >Arcturus< in einen der Mitarbeiter verliebt und ist mit ihm anschließend nach Hollywood gegangen und erfolgreich ins Filmgeschäft eingestiegen.27 Doch über diesen Verlust hilft Will eine neue Bekanntschaft. Schon vor der Abfahrt der >Arcturus< war er der aufstrebenden Schriftstellerin Elswyth Thane (eigentlich Helen Ricker) begegnet. Ihm hat sie ihr erstes Buch gewidmet.28 Die Hauptfigur dieser Novelle, ein älterer Wissenschaftler, ähnelt auffallend dem populären Will. Jetzt, nach der Rückkehr aus Haiti, heiratet der 50jährige die 23 Jahre jüngere Bewunderin. Die Flitterwochen verbringt das Paar auf den Bermudas, wo Will sein Buch über die Haiti-Expedition fertig schreibt.29 Im Vorwort offenbart er, wie besessen er vom Tauchen ist. Jeden seiner Leser fordert er auf: „Stirb nicht, ohne einen Taucherhelm geliehen, gestohlen, gekauft oder gebaut zu haben, um selber diese neue Welt zu erblicken.“30 Im Mai 1928 verleiht ihm die Tufts University den “honorary doctor of science“ und die Colgate University den akademischen Grad eines „doctor of letters“.31 Als Ersatz für Ruth kommt Gloria Hollister ins DTR. Sie hat an der Columbia-Universität den Master in Zoologie erworben und ist bisher in der Krebsforschung tätig gewesen. Außerdem ist sie jung, sportlich – und hübsch. Gemeinsam mit Will entwickelt sie ein neues Verfahren zum Einbeizen der erlegten Tiere. Sie verwendet Kalium-Hydroxid, das Haut, Schuppen und Organe nahezu durchsichtig macht. So sind unter UV-Licht die Skelette und Gräten deutlich erkennbar. Gloria begleitet Will und seinen Stab auf der ersten Expedition des DTR zu den Bermudas, wo er mehrfach Vorträge hält über seine Arbeit und Bilder zeigt, um Spender zu gewinnen. Neben der intensiven wissenschaftlichen Arbeit nehmen sie auch Teil am gesellschaftlichen Leben, besuchen Partys, Tees und Tanzveranstaltungen. Will erkennt immer deutlicher, welch enge Grenzen ihm Taucherhelm und Schleppnetz setzen, wie wenig er auf diese Weise erfahren kann. Seit der Challenger-Expedition war bekannt, dass selbst die Abgründe der Ozeane reiches Leben bergen. Aber vor allem seine eigenen Schleppnetzzüge mit der >Arcturus< haben Will überzeugt, dass da unten noch unermesslich viel zu entdecken bleibt. Immer stärker wächst in ihm der Wunsch, selbst in die eisige Finsternis hinabzusteigen, das Leben dort in der Tiefsee mit eigenen Augen zu erkunden. Mühsamer Auftakt Doch ohne Otis Barton sind Beebes Tieftauchrekorde nicht vorstellbar, denn der bringt nicht nur technisches Wissen ein, sondern vor allem auch viel Geld. Frederick Otis Barton Jr. kommt in New York zur Welt, am 5. Juni 1899. Anders als Will begeistert ihn die Unterwasserwelt schon früh. Bereits als Junge fragt sich Otis, in welcher Welt die Fische wohl leben, die er von der Oberfläche aus harpuniert. Mit 18 Jahren dann entwirft er seinen eigenen Taucherhelm aus Holz und beauftragt einen Kunsttischler in Boston mit der Fertigung. Mit dieser Eigenkonstruktion lässt er sich, mit Sandsäcken auf den Schultern, zum etwa 7 Meter tiefen Grund sinken.32 Aufregendes findet er dort nicht, wiederholt aber seine Abstiege häufig. Auch nach seinem Abschluss an der Columbia Graduate School beschäftigt er sich weiter mit der Entwicklung des Tauchens und der Geschichte der Meeresforschung, u.a. mit der Halley-Taucherglocke.33 Otis, durch eine reiche Erbschaft finanziell unabhängig, reist in der Welt umher. Auf den Philippinen beeindrucken ihn die phantastischen Erzählungen der Perlenfischer über die Schönheit der Korallenriffe. Immer wieder bewundert er im klaren Wasser das vielfarbige Treiben in den Korallengärten. Wieder in New York, kehrt er als Postgraduierter an die Columbia Uni zurück und arbeitet sich in die Naturwissenschaften ein. Mit einem Studienkollegen unternimmt er im Sommer 1927 eine Geologieexpedition nach Wyoming. Begeistert davon, planen die beiden fürs kommende Jahr eine Fahrt nach Persien. Die Kosten dafür trägt Otis und lässt extra Briefpapier drucken für diese „Western Asiatic Expedition“.34 Vor allem aber träumt er in jenen Tagen davon, die Tiefen der Meere zu erforschen. Dafür denkt er sich laufend geeignete Geräte aus. Wie er später behauptet, sei unter diesen Entwürfen auch eine Hohlkugel gewesen, die um ihren „Äquator“ einen ringförmigen Rahmen tragen sollte, der, mit Benzin gefüllt, für den Auftrieb sorge. Das zum Sinken notwendige Gewicht sollten Bleikugeln liefern, die für den Aufstieg über eine Gleitbahn abgeworfen werden konnten.35 Sollte diese bislang unbewiesene Aussage zutreffen, hätte Barton schon Mitte der 20er Jahre das Prinzip der Tauchboote von Piccard vorweggenommen. Otis malt sich aus, er pendle als anerkannter Entdecker und Wissenschaftler zwischen einem komfortablen Penthouse in New York und den Tiefen des Ozeans, wo er nach neuen Arten für das Natural Museum suche.36 Aus diesen Illusionen reißt ihn im Herbst 26 eine alarmierende Zeitungsmeldung: Der renommierte Forscher W. Beebe werde die Tiefsee erkunden.37 Dieser wolle, an einem Stahlseil hängend, bis zu einer Meile tief hinab tauchen in einem zylinderförmigen Tank, der einen Durchmesser von gut 45 cm und eine Höhe von mehr als 2,10 m aufweise. Vor dem ungeheuren Wasserdruck solle die Hülle aus gut 6 mm Stahl schützen. Der Ingenieur Barton erkennt jedoch sofort: Dieser auf ihn wie ein „Waschboiler“38 wirkende Behälter könnte dem Druck in solcher Tiefe niemals standhalten! Voller Unruhe verfolgt Otis die weitere Entwicklung, denn Beebe ist dabei, ihm sein erträumtes Projekt zu rauben! Doch in den folgenden Monaten erscheinen keine neuen Meldungen über den „Tiefseezylinder“. Otis fasst wieder Mut und fertigt neue Entwürfe. Schon auf seiner Persienreise hatte ihn das American Museum of Natural History unterstützt und die Firma Cox & Stevens hat seine Skizzen für einen Tieftauchapparat in exakte Zeichnungen umgearbeitet. Mit diesen wendet er sich schriftlich an Beebe, erhält jedoch keine Antwort. Denn der wird in jenen Tagen mit den unsinnigsten Vorschlägen und Anträgen zu seinem Vorhaben geradezu bombardiert. Fast jede Woche erneuert Otis seine Anfrage und bittet um ein Treffen, wieder und wieder, monatelang – vergeblich. Erst einer Mitarbeiterin der New York Times, die mit dem Forscher befreundet ist, gelingt es schließlich, den Promi zu einem Treffen mit dem Nobody zu bewegen. Beebe schätzt sich selbst als technisch unbegabt ein; obwohl er im I. WK Flieger war, fährt er nicht einmal Auto. Aber sofort erkennt er, dass Bartons Kugel seinem bislang angestrebten Zylinder weit überlegen ist.39 Sie einigen sich: Otis finanziert und überwacht als Eigentümer die Herstellung seiner „Kugel“ sowie des Stahlseils und des Elektrokabels. Dafür darf er Will in die Tiefe begleiten. Die Zoologische Gesellschaft soll das gewagte Unternehmen leiten. Dass dieser Teil der Vereinbarung ihm kaum Möglichkeiten zur Mitbestimmung lässt, wird Otis erst später erkennen. Der Sommer 1929 wird als Termin ins Auge gefasst, und Beebe will die notwendigen Mittel beschaffen, um die Durchführung zu finanzieren. Dazu gehört auch die mächtige Dampfwinde, die sich schon auf der >Arcturus< bewährt hat. Die Bermudas sollen als Basis dienen. Für den Guss der Hohlkugel aus Siemens-Martin-Stahl wird eine erfahrene Gießerei ausgesucht: Watson-Stillmann Hydraulics in New Jersey. Matsen beschreibt die Herstellung.40 Für den Innenraum wird ein Rohling aus Ton gebrannt und anschließend möglichst genau auf Maß und Form gebracht. Daran werden die Innenformen für die Luke und die drei „Bullaugen“ befestigt. Diesen Kern umhüllen die Modellbauer mit hölzernen Kugelsegmenten und Formteilen, die etwa zwei Zoll dick sind und der späteren Wandung entsprechen. Nun werden die äußeren Formteile für Aufhängöse, Stopfbuchse und Standfüße angebracht. Das Ganze wird in einen zweiteiligen Rahmen gestellt und vollständig mit Formsand und Ton umgeben. Nachdem Öffnungen zum Eingießen, fürs Luftentweichen sowie für den Steiger angebracht sind, wird erneut „gebacken“. Nach dem Abkühlen wird der teilbare Rahmen geöffnet, die Holzschalen werden vorsichtig entfernt und die beiden Hälften wieder geschlossen. In den entstandenen Hohlraum schießt beim Guss der flüssige Stahl, rund 1.400 °C heiß. Ist die Form schließlich erkaltet und geöffnet, schlägt die Stunde der Wahrheit. Mit den damals bescheidenen Mitteln der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung wird die Kugel auf Lunker und Haarrisse untersucht. Auch nachdem der innere Kern zertrümmert und entfernt ist und die Wände geglättet sind, lässt die Kugel keine Gussfehler erkennen. Jetzt werden die Fensteröffnungen bearbeitet, die Luke eingepasst und die Stopfbuchse eingesetzt, durch die das extra gefertigte vieradrige Kabel ins Innere der Kugel führt. Auch die Stahltrosse lässt Otis eigens für sein Vorhaben herstellen. Aufgrund der Erfahrung mit Aufzügen in Wolkenkratzern werden die einzelnen Lagen in entgegengesetzter Richtung gespleißt, um ein Verdrehen des Seils zu vermeiden, das nicht nur sein Eigengewicht und die fünf Tonnen der Kugel aushalten muss, sondern obendrein das Pendeln, hervorgerufen durch das Rollen und Stampfen des Schiffs. Deshalb werden aus den anfangs berechneten ¾ Zoll dann doch 7/8 Zoll im Durchmesser. Das jetzt kürzere Seil schränkt zwar die erreichbare Tauchtiefe ein, erhöht aber die Sicherheit. General Electric empfiehlt, den vorgesehenen Scheinwerfer nicht außen, sondern im Innern der Kugel anzubringen. Denn seine abgestrahlte Wärme mindere die Kälte in der Tiefe und binde somit Luftfeuchtigkeit. Außerdem könne die Birne, sollte sie durchbrennen, leicht von den Insassen ausgetauscht werden. Dritter und ausschlaggebender Vorteil: Man spare die langwierige Entwicklung einer Lampe, die solche Tiefen aushält. Einziger Nachteil: Eins der drei Fenster ist dauerhaft durch den Scheinwerfer belegt. Für diese „Bullaugen“ geeignete Glasscheiben zu entwickeln, stellt ein gewaltiges Problem dar. Nur das seit kurzem erhältliche Quarzglas besitzt die notwendigen Eigenschaften.41 Darauf legt Otis besonderen Wert, will er doch unbedingt Filmaufnahmen aus der Tiefe mitbringen. Jedoch ist Quarzglas in dieser Dicke noch nie hergestellt worden, und so ist auch diese Produktion riskant, langwierig und teuer. Während Barton sich mit all diesen technischen Problemen herumschlagen muss, stürzt Will sich auf den Bermudas in die Gezeitentümpel und in das sorglose Treiben der dortigen high society. Unter anderem unterweist er Prinz George von England im Tauchen mit dem Helm, und der Gouverneur der Bermudas bietet ihm an, ein aufgegebenes Quarantänehospital auf Nonsuch-Island als ständige Forschungsstation für die NYZS zu nutzen. Das gibt Beebe endlich die Gelegenheit, einen eng begrenzten Raum des Ozeans intensiv zu untersuchen. In einem Gebiet von 8 Quadratmeilen lässt er die Netze unzählige Male durchziehen in Tiefen von fast 2.000 m bis zur Oberfläche. Doch den langsamen Schleppnetzen entkommen vor allem die schnellen Schwimmer unter den Meerestieren. Damit ergeben auch die vielen Fischzüge kein vollständiges Bild. Zudem werden viele Tiere beim Emporziehen beschädigt oder gar zerstört. Die frühe Warnung des Chefingenieurs Butler von Cox & Stevens, die Winde der Arcturus könne die enorme Gesamtlast von acht Tonnen nicht bewältigen, bleibt in dieser angespannten Betriebsamkeit unbeachtet. Gewaltig unter Druck Als Barton mit seiner Kugel auf Nonsuch eintrifft, wird schnell deutlich, wie grundverschieden die beiden Männer sind. Otis, der wohlhabende Erbe, muss kein Geld verdienen, um seinen Neigungen folgen zu können. Will, der tatkräftige, fast besessene Forscher steht sozusagen ständig unter Volldampf. Beebe könne sich laut Shaw keine schrecklichere Hölle vorstellen als völlig ohne Beschäftigung zu sein.42 Darüber hinaus muss er dauernd nach Geldgebern suchen, die bereit sind, die NYZS zu unterstützen und damit seine Forschung erst zu ermöglichen. Aber obwohl er auf freigiebige Sponsoren angewiesen ist, fühlt er sich in Gesellschaft kreativer Künstler und feinsinnger Wissenschaftler wohler. Deshalb lebt er in New Yorks Upper West Side, wo vor allem Künstler und Intellektuelle hausen. Otis dagegen wohnt in Upper East Side, der von Reichen bevorzugten Gegend. Zwar anerkennt Beebe vorbehaltlos Bartons technische Kenntnisse und dessen finanzielles Engagement, traut ihm aber nicht die nötige Ausdauer zu, für die Wissenschaft „im Tempel der Natur mit dem gebotenen Maß an Hingebung zu arbeiten.“43 Ist halt nicht jedermanns Sache, von frühmorgens bis tief in die Nacht angestrengt zu arbeiten, dann auch noch beim anschließenden Whiskey Soda kräftig mitzutun und dem Chef andächtig zu lauschen, der Gedichte oder Prosatexte vorliest, nur um anderntags wieder beim Morgengrauen aus der Koje zu steigen. Will hält fünf Stunden Schlaf für völlig ausreichend, längere Ruhe sei Zeitverschwendung. Der bisher ganz und gar unabhängige Otis ist es nicht gewohnt, sich anzupassen oder gar unterzuordnen. Besonders kränkt ihn, dass Will ihn offen ignoriert, wenn sich das Gespräch nicht ausdrücklich um die Kugel dreht. Bald wird klar: Ihr gewagtes Unternehmen zwingt die beiden trotz ihres unterschiedlichen Wesens buchstäblich eng zusammenzuarbeiten, aber Freunde können sie nicht werden. Bereits nach einer Woche verlässt Otis die Station und zieht ins Hotel. Wie er vorgibt, um der Werft und damit seiner Kugel näher zu sein. Aber auch Wills Frau Elswyth ist der Trubel in der Station zu viel; sie zieht sich ebenfalls auf die Hauptinsel zurück. Schon die ersten Versuche bestätigen Butlers Bedenken. Auch der Kapitän befürchtet, dass Mast, Ladebaum und Winde ebenso wenig der Belastung standhalten können wie der wurmstichige Kahn selbst.44 Ende Juni 29 brechen sie frustriert ihre Bemühungen ab. Alles zu Ende, noch bevor es beginnt? Doch so leicht geben die Beiden nicht auf. Aber nicht etwa die NYZS besorgt leistungsfähigeres Gerät, sondern Barton ist erneut gefordert: Er muss eine leichtere Kugel herbeischaffen! Derweil versucht er im flachen Riff Filmaufnahmen. Dabei bereitet ihm die Ausrüstung große Probleme. Als Beebe die Aufnahmen sieht, empfiehlt er, Otis solle lieber im Labor arbeiten, denn ein professioneller Kameramann werde wohl nie aus ihm.45 Während der so Abgekanzelte fürchtet, Beebe könnte seine Abstiege mit anderen fortsetzen, widmet dieser sich wieder vollständig und erfolgreich seinen meereskundlichen Forschungen. Dass die Tests abgebrochen werden mussten, erwähnt Beebe in seinem Tagebuch nicht einmal. Bei seinen Veröffentlichungen setzt er weiterhin auf farbige, gemalte Abbildungen, die die Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum zeigen. Denn ein solches Bild könne die Tiere lebensechter darstellen als Schwarzweißfotos von toten Exemplaren im Labor. Trotz der ausgiebigen Sammeltätigkeit behält er die ökologische Methode konsequent bei. Ein Bericht an die NYZS lautet: „Wir versuchten, ins Privatleben dieser Fische einzudringen, um ihren Lebensrhythmus und Lebensablauf kennenzulernen, die Gründe für ihre Farbwechsel, ihre Brutgewohnheit, ihr Futter und ihre Feinde.“46 Das große Echo in der Presse hilft, die dringend nötigen Mittel für weitere Expeditionen zu beschaffen. Konstrukteur Butler berechnet, wenn der Innendurchmesser von gut anderthalb Metern um 15 cm verringert wird, kann die Wanddicke von etwa 5 cm auf etwas mehr als 3 cm reduziert werden. Damit schrumpft die Masse auf 2.250 kg; die neue Kugel ist also nicht einmal halb so schwer wie die alte. Obwohl die Kugel dadurch wirkt als sei in ihrem Innern kaum noch Raum für einen großen Hund, geschweige denn für zwei Männer, stimmt Barton notgedrungen zu.47 Auf ihn wirkt der „unbeholfene Ball“ ohnehin eher wie „ein ungeheuer aufgeblasener, leicht schielender Ochsenfrosch“.48 Die Stahltrosse ist jetzt zwar überdimensioniert, bietet dafür aber höhere Sicherheit. Auch die vier teuren Quarzfenster, nie in die erste Kugel eingebaut, lassen sich verwenden. Also wird die große Kugel eingeschmolzen und die kleinere gegossen. Die Mittel dafür kann Barton nur mit Mühe aufbringen, denn der Börsenkrach hat sein Vermögen drastisch schwinden lassen. Will sieht seinen Traum, in die Tiefsee vorzudringen, durch die wirtschaftliche Depression bereits zerrinnen. Umso dankbarer ist er Otis, als dieser trotz Krise die neue Kugel liefert. Er ernennt ihn zum „Beauftragten Mitglied fürs Tieftauchen“ und erklärt bei einem Vortrag im Frühjahr 1930, er und sein Partner Barton werden noch heuer in die Tiefsee hinab tauchen mit einem Gerät, das Barton entwickelt habe. Will denkt sich auch gleich einen Namen dafür aus. War bisher immer von „tank“, „bell“ oder „diving machine“ die Rede, heißt das Gerät ab jetzt „Bathy-sphere“. Während der Saison 1930 ist die Crew hauptsächlich damit beschäftigt, Kinderkrankheiten der Bathysphere zu beseitigen und Pannen zu beheben. Am 3. Juni wird die unbesetzte Kugel zum ersten Test im Freiwasser auf gut 600 m abgesenkt. Dabei verdreht sich die Trosse, und das Elektrokabel wickelt sich 45mal um das Stahlseil. Das muss beim Aufziehen auf die Trommel einen Drall bekommen haben. Tee-Van ist gezwungen, das Stahlseil auf ganze Länge auszurollen und neu ohne Verdrehung auf die Trommel zu wickeln. Beim nächsten Abstieg erweist sich die Stopfbuchse als undicht, und ein Kurzschluss legt den Scheinwerfer lahm. Kurz darauf entdeckt Otis in einem der Fenster einen feinen Riss. Dann bricht das Telefonkabel. Otis ist sehr niedergeschlagen; doch Will treibt ihn an. Trotz aller Schwierigkeiten ist er überzeugt, dieses neuartige Werkzeug könne die Ozeanografie revolutionieren. Etwas unbeholfen stehen Will und Otis neben der Bathysphere. Bild: Neptun Nr. 9 v. Sep. 1962 Das vor allem will er beweisen, nicht neue Rekorde erzielen. Denn selbst sein Chef, der Direktor der NYZS, hält die Versuche für „Effekthascherei“, die nur Beebes Popularität diene statt des wissenschaftlichen Verständnisses der Meere.49 Jocelyn Crane stößt zum Team; auch sie ist gut ausgebildet und arbeitet anfangs kostenlos. Sie wird bei Will bleiben bis zuletzt. 1936 fährt sie eigenständig von Palästina aus durch Syrien und Kurdistan bis nach Bagdad Sie veröffentlicht ihre ersten wissenschaftlichen Artikel und wird allmählich eine weltweit anerkannte Spezialistin für Krabben. Sie wird später auch Beebes Forschungsstationen Rancho Grande in Venezuela und Simla auf Trinidad begleiten und nach dessen Tod zum Direktor des DTR aufrücken. Noch kurz vor ihrem Tod 1998 beschäftigt sie sich mit Kunstgeschichte. Der >Delphin< stellte die Bathysphere teilweise aufgeschnitten dar. Bild: Delphin Nr. 3 v. März 1960. Neben rastloser Arbeit auf Nonsuch finden in der Station auch ausgelassene Feten statt. Bei einem der Kostümfeste kreuzt Will sogar als Callgirl auf. Eine Einheimische berichtet später, Beebe und sein Stab hätten mehr Aufregung ins gesellschaftliche Leben der Bermudas gebracht als alles andere seit der Koloniegründung.50 Nach einem erfolgreichen Test mit der leeren Kugel auf 450 m wird es am 11. Juni Ernst. „Schließlich waren wir alle bereit, und ich schaute umher auf die See und den Himmel, die Boote und meine Freunde. Da mir kein markiger Spruch einfallen wollte, der durch die Zeiten hallen würde, sagte ich nichts, krabbelte schmerzvoll über die Stahlbolzen, fiel ins Innere und rollte mich zusammen auf dem kalten, harten Boden der Kugel.“51 Während der „stählerne Sarg“ tiefer und tiefer sinkt, beobachtet Gloria oben an Deck eine Heringsmöwe und gibt ihre Eindrücke über die Telefonverbindung an Will weiter. Der notiert in 300 m Tiefe, er sei der erste Ornithologe, der unter Wasser Vogelbeobachtungen aufzeichne. Doch dann korrigiert er sich: Schon auf den Galapagos hat er mit dem Taucherhelm drollige Pinguine beobachtet und darüber Aufzeichnungen geführt. Ständig kauert Will vor dem Fenster, denn nur er besitzt das nötige Fachwissen über die Meeresbewohner. Er hätte lieber John dabei, der seine Beobachtungen bestätigen könnte, doch dazu ist Otis nicht bereit. Bei diesem Abstieg erreicht die Bathysphere fast nebenbei einen neuen Rekord: nahezu 435 Meter! Darüber berichtet die New York Times schon am nächsten Tag auf der ersten Seite.52 Das allgemeine Medienecho ist gewaltig; die frühen 30er Jahre lieben Höchstleistungen. Der neue Rekord ist Höhepunkt der Saison 1930 und zugleich deren Abschluss. 53 Barton beschließt, selbstständig einen Unterwasserfilm zu drehen. Denn er spürt deutlich die kühle Distanz, auf die Beebe ihn hält, und weiß genau, dass er nur wegen der Bathysphere vom Team geduldet wird. Um die Mittel für den geplanten Film zu beschaffen, entschließt er sich zu einem folgenschweren Schritt: Er übergibt die Bathysphere unentgeltlich an Beebe, d.h.an die NYZS, unter der Bedingung, dass er an sämtlichen künftigen Tieftauchversuchen teilnehmen kann. Damit ist er zwar Kosten und Sorgen für den laufenden Unterhalt los, hat aber außer seiner technischen Beratung keinerlei Mitspracherecht mehr. Endlich wieder sein eigener Herr, lässt er Gehäuse bauen für seine Kameras, engagiert Profikameramänner und eine bekannte Schwimmerin als UW-Model und testet Mensch und Material beim Helmtauchen in der Karibik. Weil er in seinem Film auch eigene Aufnahmen aus der Tiefsee verwenden will, vergisst er die Bathysphere nicht. In diese will er einen stärkeren Scheinwerfer einbauen, und der Stahleinsatz im dritten Fenster soll für die Kamera endlich durch Quarzglas ersetzt werden. Die Fenster aus hochwertigem Quarzglas waren besonders schwierig herzustellen. Bild: Lies mit Nr. 16 v. 29.7.1952. Beebe verbringt den Sommer 1931 wieder auf Nonsuch mit Helmtauchen und Tiefseefischen. Schon auf seinen Dschungelexpeditionen hat er erkannt, wie unmittelbar die Lebewesen eines Biotops voneinander abhängen. Um diese gegenseitigen Verknüpfungen herauszufinden, sammelte er alle erreichbaren Tiere innerhalb einer Viertel Quadratmeile. „Ein Viertel einer Quadratmeile“ wird zum stehenden Begriff unter Biologen.54 Will ist überzeugt, den größten Beitrag für die Wissenschaft zu leisten, wenn er sich auf ein eng begrenztes Gebiet beschränkt und das so gründlich wie möglich erforscht. Im Kleinen das Große suchen, die vielfältigen Zusammenhänge herausfinden. Obwohl ein solch ökologischer Ansatz Anfang der dreißiger Jahre noch völlig unüblich ist, will Beebe nun auch in der Tiefsee ebenso umfassend verfahren. Innerhalb von drei Jahren wird seine Crew vor Nonsuch in einem Areal von rund 15 km Durchmesser auf 271 Fischzügen 1344 Netze emporziehen, aus Tiefen zwischen 900 und mehr als 1850 Meter.55 Aus den zahlreichen Fängen vor Nonsuch wird er zusammen mit Tee-Van im Lauf der Zeit 335 Fischarten katalogisieren und veröffentlichen.56 Im Juni erscheint im „National Geographic Magazine“ sein ausführlicher und reich bebilderter Artikel über den Rekord im letzten Jahr.57 Vor allem die Ankündigung, im nächsten Jahr eine halbe Meile tief tauchen zu wollen, lockt potentielle Geldgeber. Auf ihren Yachten besuchen sie Beebe, lassen sich vielleicht gar zum Helmtauchen überreden und stellen danach Schecks aus. Einen besonders dicken Fisch zu fangen gelingt Will an seinem 54. Geburtstag. Der Bankier Chance ist so begeistert, dass er nach der turbulenten Geburtstagsparty nicht nur einen 500 $ Scheck überreicht, sondern fest verspricht, zur Hälfte die Kosten für die Tieftauchversuche im kommenden Jahr zu übernehmen. Dann verschlechtert sich das Wetter, und die alte Dampfwinde der Arcturus bricht beim Netzschleppen in über 3.000 m Tiefe. Mehrere kleine Unfälle und einige Erkrankungen bewegen die Crew schließlich, nach New York zurückzukehren. Der Artikel wird in der TauchHistorie 14 fortgesetzt. Fußnoten: 1 Zitiert nach Wikipedia: t1p.de/y8s7 2 Beebe, William: A Wonderer Under Sea. In: The National Geographic Magazine, Vol. LXII; No. 4 vom Oktober 1932, S. 740-758, hier S. 741, Übersetzung und Auslassung vom Verfasser. 3 Ein 1881 geborener Bruder starb als Einjähriger. Welker, Robert H.: Natural Man, The Life of William Beebe. Bloomington, USA 1975, S. 4 4 Shelton, David: Into the Deep, The Life of Naturalist and Explorer William Beebe. Watertown, MA 2009. Beebe führte ab seinem 13. Lebensjahr Tagebuch über seine Sammeltätigkeit und Naturbeobachtungen. 5 Henry Fairfield Osborn war zugleich einer von Wills späteren Professoren und Förderern an der Columbia Universität. Er vertrat die Auffassung, ein Jahr im Zoo sei wertvoller als ein Jahr reguläres Studium. 6 Die NYZS heißt heute Wildlife Conservation Society und setzt sich ganz im Sinne Beebes weltweit für Naturschutz ein. 7 Welker: FN 3, S.10 8 Gould, Carol G.: The remarkable Life of William Beebe, Explorer and Naturalist. Washington 2004, S.67 9 Gould: FN 8, S. 67 10 Beebe, W.: A Bird Called „Brown Creeper“. In: Harper’s Young People, Jan. 1895 11 Neben den Fachzeitschriften wie z.B. Science, American Naturalist und Zoologica schrieb er ebenso für Ladies‘ Home Journal, Boys and Girls, Atlantic Monthly u.a. Vgl. dazu die Bibliografie von Berra, Tim M.: William Beebe, An Annotated Bibliography. Hamden 1977, S. 27 ff. 12 Werbeblatt des Brockhaus-Verlags, Leipzig, aus den 1930er Jahren 13 Beebe, W.: Dschungelleben, Forscherfreuden in Guayanas Urwäldern, Leipzig 1940, S.12 14 Beebe, C. William/Beebe, Mary Blair: Two Bird Lovers in Mexiko, New York 1905 und: Our Search for a Wilderness, New York 1910. Siehe Berra: FN 11, S. 109 ff. 15 Beebe: The Bird, Its Form and Function, New York 1906. Zitiert nach: The Official William Beebe Web Site. Übersetzung vom Verfasser. 16 Beebe: A Monograph of the Pheasants, London 1918-1922; später als: Pheasants, their Lives and Homes, New York 1926 Die Erstauflage der 4 aufwändig illustrierten Bände war auf 500 Stück begrenzt und kostete 250 $ pro Set. Die Gesamtkosten von 250 000 $ konnten nur mit Hilfe großzügiger Sponsoren aufgebracht werden. Die Erlebnisse auf der Fasanen-Expedition schildert Will später als wäre Blair nicht dabei gewesen in: Im Dschungel der Fasanen, Leipzig 1930. 17 Sie ist auch Mitbegründerin der „Society of Woman Geographers“, denn Vereinigungen wie der „Explorer’s Club“ verweigerten damals Frauen die Mitgliedschaft. 18 Matsen, Brad: Descent, The Heroic Discovery of the Abyss. New York 2005, S.15 19 Beebe selbst liebt Cervantes‘ Werk. In seinem Buch „Galapagos“ jubelt er über eine in Havanna aufgestöberte „prächtige alte Ausgabe des Don Quijote“ (S.39) und im „Arcturus-Abenteuer“ nutzt er „Quijottes Pferd“ zu einem Vergleich (S.78). 20 Barton, Otis: Adventure on land and under the sea, London 1954, S. 10 21 Beebe: The Arcturus Adventure. New York 1926, Deutsche Ausgabe: Das Arcturus-Abenteuer, Leipzig 1928, S. 63 22 Beebe: FN 21, New York 1926, S.36. Übersetzung vom Verfasser. 23 „To Explore Mysteries of the Far-Famed Sargasso Sea“ in: Illustrated London News v. 19.2.1925, S. 6 24 Beebe: FN 21, S. 240 25 Gould: FN 8, S.256 26 Gould: FN 8, S. 265 27 Ruth schrieb unter anderem das Drehbuch für den Kassenschlager „King Kong“, siehe Gould FN 8, S.265. 28 Thane, Elswyth: Riders of the Wind. New York 1926. Sie starb 1984. 29 Beebe: Beneath Tropic Seas, New York 1928. Sein bis dahin 14. Buch wurde bisher nicht ins Deutsche übersetzt. 30 Beebe: FN 29 , S. 6. Übersetzung vom Verfasser 31 Matsen: FN 18, S. 64 u. S. 242 sowie Gould: FN 8, S.270 32 Barton: FN 20, S. 1 33 Edmond Halley, 1656-1742, Naturwissenschaftler, Astronom und Mathematiker. Dessen Taucherglocke beschreibt Beebe in: 923 Meter unter dem Meer, Leipzig 1935, Abb. 14 neben S. 48 und S. 52 ff. 34 Übrigens bezeichnet er sich in jenem Briefkopf als Zoologe, nicht als Ingenieur. Vgl. Matsen, FN 18, S.27 35 Barton: FN 20, S.4. Das Prinzip, eine vermutlich wasserdichte Tauchkammer mit Gewichten abzusenken, die für den Aufstieg abgeworfen werden können, stammt angeblich schon aus dem 16. Jahrhundert. Siehe Marx, Robert F.: The History of Underwater Exploration, New York 1978, S. 46 36 Barton: FN 20, S. 5 37 „Beebe to Explore Ocean Bed in Tank“ in: New York Times v. 25.11.1926 38 Barton: FN 20, S. 5 39 Später schreibt Beebe, viele Jahre vor Bartons Vorschlag habe bereits Colonel Theodore Roosevelt (26. Präsident der USA) in einer Diskussion übers Tiefseetauchen der Kugelform den Vorzug gegeben. Beebe, W.: „A Round Trip To Davy Jones’s Locker“ in: The National Geographic Magazine, Washington, Vol. LIX. No. 6, June 1931, S. 653-678, hier S. 653. Ebenso in: Beebe: Auf Entdeckungsfahrt mit Beebe, Leipzig 1936, S. 175 40 Matsen: FN 18, S.40 ff. 41 Quarzglas, auch Kieselglas genannt, besteht aus reinem Siliziumdioxid und zeichnet sich nicht nur durch hervorragende Durchlässigkeit für Lichtstrahlen und große Festigkeit aus, sondern auch durch geringe Wärmeausdehnung. 42 Shaw, Charles G.: A Personal Sketch, in: Bookman, Feb. 1928, S. 635-637. Nachgedruckt in: Berra, FN 11, S.133-137 43 Matsen: FN 18, S.56. Übersetzung vom Verfasser 44 Als Basisschiff für die Tauchkugel dient anfangs und zum Schluss der alte Leichter >Ready<, der jedes Mal von einem Schlepper aufs Meer gezogen werden muss. Zwischendurch wird die ebenfalls oft leckende >Freedom< verwendet. Die Trommel der dampfbetriebenen Winde kann 975 m des Stahlseils aufnehmen. Zur aufwändigen Seilführung siehe die Zeichnung in Beebe: FN 33, S. 192/193 45 Barton: FN 20, S.17 46 Matsen: FN 18, S. 64. Übersetzung vom Verfasser 47 So erscheint die Bathysphere dem Biografen Matsen, als er sie das erste Mal sieht. Matsen: FN 18, S. XIII 48 Barton: FN 20, S. 18 49 Matsen: FN 18, S.101 50 50 Gould: FN 8, S. 298 51 Beebe, W.: Half Mile down, London 1935, S. 103. Übersetzung vom Verfasser 52 Die Meldung geht um die Welt, wenn auch verzögert, z.B. berichtet die Illustrated London News am 19. Juli über diesen Abstieg. 53 Die vier letzten Abstiege 1930 gingen nicht in die Tiefe, sondern dienten dem nicht ungefährlichen „Konturentauchen“. 54 Gould: FN 8, S. 334 55 Beebe, W.: „The Depths of the Sea“ in: The National Geographic Magazine, Vol. LXI, Nr.1, Jan. 1931, S.64-88 56 Beebe, W. und Tee-Van, J.: Field Book of the Shore Fishes of Bermuda, New York 1933 Zu weiteren Fischbeschreibungen der Beiden siehe: Berra, FN 11. 57 Beebe: FN 39